M. Ideli u.a. (Hrsg.): Neue Menschenlandschaften

Cover
Titel
Neue Menschenlandschaften. Migration Türkei–Schweiz 1961–2011


Herausgeber
Ideli, Mustafa; Virginia, Suter Reich; Hans-Lukas, Kieser
Reihe
Schriftenreihe der Stiftung Forschungsstelle Schweiz-Türkei 3
Erschienen
Zürich 2011: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
404 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Roberto Sala

Dieser Sammelband versteht sich als erste umfassende historische Publikation zur Einwanderungs- und Integrationsgeschichte der Menschen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – zunächst vor allem als Arbeitsmigranten und seit den 1980er Jahren als politische, insbesondere kurdische Flüchtlinge – aus der Türkei in die Schweiz einwanderten. Ein wichtiger Ausgangspunkt des Bandes besteht darin, dass die gegenwärtig circa 120 000 Migranten und Migrantinnen türkischer Herkunft «deutlichere Akzente als zahlenmässig grössere Einwanderungen aus Nachbarländern und dem romanischen Mittelmeerraum» gesetzt haben (Kieser, S. 7). Dass die Migration aus der Türkei tatsächlich qualitativ beachtenswerte Merkmale aufweist, belegen zahlreiche Aufsätze des Buches, die zu drei wesentlichen Erkenntnissen führen.

Erstens bekamen türkische Staatsangehörige eine Sonderstellung innerhalb migrationspolitischer Diskurse und Praktiken der Eidgenossenschaft, wobei ihre Andersbehandlung im Unterschied etwa zu jener der Italiener bis in die Gegenwart angehalten hat (Tezgören). Sowohl im Kontext der Arbeitszuwanderung als auch in dem der Flüchtlingsmigration entwickelten die Schweizer Behörden Semantiken, die die Fremdheit bzw. Bedrohlichkeit türkischer Migranten unter Rückgriff auf kulturalistische Deutungsmuster fortlaufend untermauerten. Zweitens reproduzierten sich im Rahmen der Einwanderung in die Schweiz die brennenden ethnopolitischen Konflikte, die den Staat Türkei seit seiner Gründung prägen (Reich, Zehrê, Hürlimann/Aratnam). Das Spannungsverhältnis zwischen den Vertretern türkischnationaler Perspektiven und den Angehörigen von Minderheiten wie den Aleviten, den Kurden und den Assyrern führte auch in der Fremde zur Politisierung ethnischer Zugehörigkeit und prägte erheblich die Erfahrungen der Einwanderer. Drittens wurden Migranten und Migrantinnen türkischer Herkunft zur Projektionsfläche für jene xenophoben Diskurse, die seit den 1990er Jahren und vor allem nach den Anschlägen des 11. September 2001 in den Muslimen eine Hauptgefahr für die Schweizer Gesellschaft ausmachen (De Simone, Wäckerlig, Kaya). Die Politisierung religiöser Zugehörigkeit stellt für die Einwanderer muslimischen Glaubens eine Herausforderung dar; dabei lassen sich ihre Reaktionen auf die Ausgrenzungsdynamiken der Mehrheitsgesellschaft nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen, sondern widerspiegeln die politische und ethnische Vielfalt des Herkunftskontexts.

Diese wissenschaftlich relevanten Resultate kommen leider nicht völlig zur Geltung, da sich der Aufbau und die formal-inhaltliche Gestaltung des Bandes durch Schwächen auszeichnen. Im ersten Teil zur «Geschichte der Einwanderung» weist beispielsweise die Analyse der Schweizer Migrationspolitik gegenüber türkischen Staatsangehörigen erhebliche Redundanzen auf. Unzureichend differenziert sind zudem der zweite, dritte und vierte Teil, die Überschriften «Minderheiten als Migranten, Migranten als Minderheiten», «Partizipation und Konflikte» und «Selbstorganisation und Partizipation» tragen. Es werden in erster Linie drei Themenbereiche – die Konflikte zwischen ethnischen Gruppierungen aus der Türkei, die aus der Zugehörigkeit zum Islam resultierenden Spannungen zwischen Einwanderern und Mehrheitsgesellschaft sowie die Integrationssituation der Migranten und Migrantinnen – analysiert, ohne jedoch diese einzelnen Aspekte dem einen oder anderen Abschnitt eindeutig zuzuordnen. Der fünfte und letzte Teil «Migrationslandschaft Schweiz und Europa» hat hingegen eine klare Funktion, da der Schweizer Fall aus europäisch vergleichender Perspektive betrachtet wird.

Gelegentlich sind im Buch auch methodologische Unzulänglichkeiten erkennbar, die etwa Unklarheiten bei der Repräsentativität von empirischen Umfragen zur Integration der Einwanderer (Ideli a, b, c) und das Auftreten normativer Akzente in der Einleitung zum Band (Kieser) – z. B. die Betrachtung der türkischen Migration als «Erfolgsgeschichte» – betreffen. Die starke Identifikation mit der zu untersuchenden ethnischen Zielgruppe der Assyrer (Jacob) sowie der Rückgriff auf spekulative Annahmen bezüglich der politischen Orientierung der Migranten (Strjbis) sind ebenfalls als problematisch zu werten.

Über die genannten Mängel hinaus resultieren aus der Gesamtanlage des Bandes theoretische Deutungsengpässe, die sich auf zwei Ebenen feststellen lassen. Zum einen suggeriert die Fokussierung auf die grossen ethnischen bzw. ethnisch-religiösen Gruppierungen, dass sich die Lebenswelten der Migranten und Migrantinnen aus der Türkei vor allem an diesen Zugehörigkeiten orientiere. Die fehlende Einschätzung der Reichweite der ethnisch bzw. ethnisch-religiös ausgerichteten Vereinigungen, lässt die Frage offen, inwiefern die von ihnen verkörperten Identitäten für die Mehrheit der Einwanderer tatsächlich von Bedeutung sind. Dies verstellt den Blick dafür, dass vor allem Menschen aus ländlichen Gebieten andere Formen von Ethnizität mitgebracht haben, nämlich diejenigen, die sich auf die sozialen Netzwerke aus der Herkunftsgemeinde bezogen. Das Ausmass dieser Mikroethnizität und deren Wechselbeziehung mit grösseren ethnischen Zugehörigkeiten bleiben jedoch im Buch völlig unberücksichtigt. Zum anderen kennzeichnet ein ähnliches, aber quasi umgekehrtes Problem die verhältnismässig wenigen Beiträge, die nicht migrations- oder ethnopolitischen Konflikte angehen, sondern die Integrationssituation der Migranten und Migrantinnen untersuchen (Ideli a/b/c, Bolzman/Gomensoro sowie in Bezug auf Deutschland Haug). Trotz einer partiellen Binnendifferenzierung fokussiert hier die Analyse im Allgemeinen auf die Menschen mit «türkischem Migrationshintergrund», deren soziales Verhalten aufgrund statistischer Daten es zu untersuchen gilt. Mit Blick auf die extreme Fragmentierung in unterschiedlichen Milieus und ethnischen Gruppierungen, die der Band sehr deutlich benennt, stellt sich jedoch die Frage, inwiefern es überhaupt sinnvoll ist, eine «türkische Migrationsgemeinde » als einheitliche soziale Gruppe zu erforschen.

Das Werk ist ein nützliches Instrument, um das Zusammenwirken von nationalen, ethnischen und religiösen Zuschreibungen bzw. Zugehörigkeiten in der Schweizer Migrationsgeschichte nachzuvollziehen, denn diese unterschiedlichen Aspekte treten bei Einwanderern aus der Türkei in besonderem Mass auf und führen zu polarisierten Konflikten sowohl innerhalb dieser Gruppe als auch im Verhältnis zwischen Migrationsbevölkerung und Mehrheitsgesellschaft. In dieser Hinsicht hätte das Buch möglicherweise von einer bewussten Beschränkung auf migrations- und ethnopolitische Konstellationen, über die der Leser dank der teilweise sehr guten Beiträge informative und theoretische relevante Einblicke erhält, profitiert. Als allgemeine Darstellung über die Einwanderung aus der Türkei in die Schweiz weist der Sammelband hingegen Defizite auf.

Zitierweise:
Roberto Sala: Rezension zu: Mustafa Ideli, Virginia Suter Reich, Hans-Lukas Kieser (Hg.): Neue Menschenlandschaften. Migration Türkei–Schweiz 1961–2011. Zürich, Chronos, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S. 307-309.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S. 307-309.

Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit